Auszüge aus den Protokollbüchern von 1912-1914, 1919-1924 und 1930-1931
(Dr. Heiner Neureither)

Fast möchte man sagen pünktlich zum 90jährigen Jubiläum des SPD-Ortsvereins ist das für verschollen gehaltene Protokollbuch der sozialdemokratischen Bürgerausschußmitglieder aufgefunden und bei der letzten Jahreshauptversammlung dem Vorstand übergeben worden. Roland Winstel hat es im Nachlaß seines Großvaters Adolf Winstel (Fraktionssprecher ab 1930) entdeckt, der es offensichtlich 1933 vor den Nationalsozialisten gut versteckt hatte.

Die handgeschriebenen Protokolle beziehen sich auf die Tagesordnungspunkte, die für den Bürgerausschuß zur Entscheidung anstanden, und umfassen die Zeit von 1912-1914, 1919-1924 und 1930-1931.

Für den 1. Zeitabschnitt sind nach dem Sitzungsprotokoll säuberlich Zeitungsberichte über den tatsächlichen Verlauf der Bürgerausschußsitzungen eingeklebt. Die Berichte sind der "Volksstimme" entnommen, dem in Mannheim herausgegebenen sozialdemokratischen Presseorgan der Region.

Das Protokollbuch ist nicht nur ein historisches Dokument für die Ortsvereinsgeschichte, sondern besonders für die allgemeine Geschichte der ehemaligen Gemeinde Leimen. Eine breite Palette von kommunalpolitschen Aufgaben und Problemen, mit denen sich die damaligen Sozialdemokraten zu befassen hatten, widerspiegelt sozusagen hautnah die Entwicklung Leimens. Industrialisierung und sozialpolitische Herausforderungen vor dem 1. Weltkrieg (die Auseinandersetzung mit der Leitung des Zementwerks spielt dabei eine für Sozialdemokraten wichtige Rolle), der Ausbau der Infrastruktur (Straßen, Kanalisation, Schule), der hoffnungsvolle demokratische Beginn nach 1918, die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise ab 1929 (Wohnraumbewirtschaftung, Arbeitslosigkeit, Beamtengehälter, Sozialleistungen) und schließlich die Abwehr der nationalsozialistischen Gefahr ziehen als lebendige Bilder vor den Augen des Lesers vorüber, der bereit ist, mit etwas Fantasie und Fachkenntnis sich in die Vergangenheit hineinzuversetzen.

Personen, ja sogar deren Verhaltensweise, Sachverhalte, Gebäude und Straßen ergeben ein farbenkräftiges Mosaik, wenn man zwischen den sachlich abgefaßten Sätzen der Protokolle liest. Nicht zuletzt wirft das Protokollbuch ein helles Licht auf die Persönlichkeit des Heidelberger SPD-Parteisekretärs Emil Maier. Ein überaus aktiver, sachkundiger Sozialdemokrat mit vollem Terminkalender, immer unterwegs, vortragend, beratend, richtungsweisend und so die Arbeit der Leimener Sozialdemokraten fördernd. Emil Maier war seit 1919 im badischen Landtag, Fraktionsvorsitzender und seit 1931 bis zu seinem frühen Tod 1932 Innenminister (vgl. Bericht der RNZ, Nr. 83 v. 12. 4. 94).

Abgedruckt werden einige Textauszüge, die unserer Meinung nach unverwechselbar sind für sozialdemokratische Kommunalpolitik in Leimen, eine Ergänzung unserer bereits 1978 verfaßten Ortsvereinsgeschichte, die z. Zt. fortgeschrieben bzw. nach Vorliegen neuer Dokumente erweitert wird.


1.) Fraktionssitzung vom 4.11.1912

Tagesordnung: Bericht der Gemeinderäte

Über Elektrizität u. Gasversorgung erstattete Genosse (Wilhelm) Arnold Bricht. Er führte an, daß der Direktor der O.G. nicht gekommen sei, daß der Gemeinderat beschlossen habe, die Erstellung eines Gaswerkes zu unterlassen, da man von der O.G. das Kubikmeter Gas für 4 Pfennig haben kann und dieselbe das Entgegenkommen bringe, das Gas für Heizzwecke u. Licht für die Küche. Genosse Jak(ob) Hammer macht den Vorschlag, da er vom Landtagsabgeordneten Genosse Pfeiffle gehört habe, die Süddeutsche Eisenbahn-Gesellschaft wolle ein großartiges Gaswerk errichten, die Gemeinde Leimen solle sich noch abwartend verhalten. Genosse (Adam) Waldbauer macht auf die Scherereien des Wieslocher Elektrizitätswerkes aufmerksam und führt an, daß es bei dem Gaswerk ebenfalls so kommen würde, denn eine Gemeinde könne einer Gesellschaft gegenüber nichts machen, betreffs Terrorismus gegen die Arbeiter. Anders wäre dies, wenn die Gemeinde Leimen ein eigenes Gaswerk hätte. Gen Gg. (Georg) Keller meint, man solle sich einmal bei der Mannheimer Fraktion erkundigen über Gaswerk und Kohleneinkäufe.

Nachdem nun genug über diese Debatte gesprochen war, führte der Vorsitzende Daniel Keller an, daß wir jetzt Leute auf dem Rathaus haben, die es verstehen werden, derartige Verträge mit solchen Gesellen abzuschließen.

Anmerkung des Schriftführers M(ichael) Ebner: Strom bezog Leimen später von der O.E.G. (Oberrheinische Elektrizitätsgesellschaft), Gas von den Stadtwerken Heidelberg.


2.) Bericht in der "Volksstimme" vom 15. Januar 1913
(betr. Seilbahn für das Zementwerk)

Bürgerausschußmitglied Genosse (Christian) Bollack begründete die Resolution. Er führte zum Teil aus: Wir Sozialdemokraten sind für jegliche Erweiterung der Industrie und der Technik und stimmen deshalb auch geschlossen für die Vorlage.

Anderseits müssen wir verlangen, daß endlich auch das gesetzlich gewährleistete Koalitionsrecht den Arbeitern des Zementwerks nicht mehr länger vorenthalten wird. Viele Arbeiter mußten, da sie in der Umgebung keine Arbeit finden konnten, Leimen verlassen. Schon aus Humanität sollte die Schottsche Familie solche illegale Handlungsweise unterlassen. Erst kürzlich hat Herr Dr. Schott junior wiederum zehn Mann von der Packerei entlassen, weil sie sich organisierten, um eine Lohnreduzierung abzuwehren.


3.) Fraktionssitzung vom 20. Juni

Der Vorsitzende (Karl) Suntz eröffnet die Sitzung um 3/4 9 Uhr.

Kalbrunner Philipp gab Bericht über die verflossenen Gemeinderatswahlen, wobei er bemerkte, daß trotz des Sieges, und der Wahl von 3 Gemeinderäten die bürgerlichen Parteien mehr säumige Wähler zur Wahlurne brachten als wir, welches wahrscheinlich darauf zurückzuführen ist, daß sie eine große Angst hatten dahingehend, daß nicht die Sozzen auch noch die Mehrheit in Gemeinderat erhalten, welches aber trotzdem geschehen ist......

Schluß der Sitzung 11 1 /4 Uhr.

Philipp Kalbrunner (Schriftführer)

Anmerkung:

Die SPD Leimen konnte einen großen Wahlerfolg verbuchen: Sie erhielt im Bürgerausschuß 29 Sitze von 48, im Gemeinderat 5 Sitze von 8.


4.) Fraktionssitzung vom 15.10.1919,

Abends 8 Uhr im "Rößle"

Gemeinderat (Johannes) Reidel hielt ein Referat über Volksbildung und Schule. Er führte unter anderem folgendes aus; daß es den Parteigenossen noch viel Arbeit und Mühe kosten würde, um das alles durchzusetzen, was wir von Volksbildung und Schule verlangen. Unsere Jugend müsse in einem ganz anderen System erzogen werden. Das könne aber nur geschehen, wenn alle Kreise dieses große Ziel vor Augen hätten, denn durch den Krieg und durch den Lesestoff, welcher in den Schulen und im Haushalt den Kindern vorgesetzt wurde, überhaupt das ganze alte System trägt die Hauptschuld an diesen Zuständen unserer Jugend, und das müsse besser werden....

Schluß 11 Uhr


5.) Fraktionssitzung vom 7. Juli 1930

Tagesordnung:
Verschiedene Bürgschaftsübernahmen und der Gemeindevoranschlag 1930/31

Der Vorsitzende Gen. Suntz eröffnet die Sitzung um 9 Uhr. Punkt 5 (Gemeindevoranschlag) wird eingehend durchberaten. Gen. Reidel sen. gab dazu die nötigen Erläuterungen. Bei Position "Persönlicher Aufwand" wurde allgemein Kritik geübt, weil die Gemeinde die Soziallasten für ihrer Beamten ganz trägt. Hierzu stellt Gen. Süfling den Antrag, daß die Gemeindebeamten ihre Sozialbeiträge selbst tragen sollen und das so ersparte Geld zu Gunsten der Arbeitslosen verwendet wird. Die Fraktion einigt sich auf folgenden Antrag: Da die Gemeinde die Sozialbeiträge ihrer Beamten voll trägt, beantragt die sozialdemokratische Fraktion, die Sozialbeiträge der Notstandsarbeiter auf Gemeindekosten zu übernehmen."

Wird der Antrag im Gemeinderat nicht angenommen, lehnt die Fraktion den Etat (Haushalt) ab. Nachdem über die einzelnen Positionen Aufklärung geschaffen und die Sprecher bestimmt waren, konnte der Vorsitzende die Sitzung 12.30 Uhr schließen.

Der Schriftführer Ad. Weber


6.) Fraktionssitzung vom 26.1 1.1930

Parteivorsitzender Genosse (Johannes) Leonhard eröffnet die Sitzung um 8 Uhr mit der Tagesordnung:
I. Wahl des Fraktionsvorstandes
II. Einteilung der Kommissionen

Gen. Leonhard begrüßt die Erschienenen und schreitet nach Annahme der Tagesordnung zu Punkt I. Als Fraktionsvorsitzender wird vorgeschlagen: Suntz, Winstel, Weber und Isemann. Gen. Stuntz lehnt eine Wiederwahl ab, Weber und Isemann ebenfalls. Als 1. Vorsitzender wird Gen. Winstel, als 2. Gen. Suntz gewählt, als Protokollführer Weber. Die Gewählten nehmen ihr Amt an. Gen. Winstel übernimmt den Vorsitz und Gen. Reidel sen. das Wort. Gen. Reidel gibt einen Rückblick über die Gemeindewahlen und gibt seiner Genugtuung Ausdruck, daß es der Sozialdemokratie gelungen ist, das gesamte Bürgertum mit Einschluß der Stahlhelmer und Hitler zu schlagen. Die Fraktion erhält von 56 Sitzen 29, ist also in der Mehrheit. Praktisch wird sich das aber erst bei der Bürgermeisterwahl, welche 1932 stattfindet, auswirken. An der anschließenden Debatte beteiligten sich die Fraktionsmitglieder in anregender Weise.....

Nach kurzem Schlußwort konnte der Vorsitzende Gen. Winstel die harmonisch verlaufene Sitzung um 12 Uhr schließen.

Der Schriftführer Ad. Weber

Anmerkung:

Es war aber nur eine knappe Mehrheit. Von 48 Sitzen im Bürgerausschuß erhielt die SPD 25, von 8 Gemeinderatssitzen erhielt sie 4. Joh. Reidel zählt hier "unterm Strich" zusammen, um den Vorsprung der SPD zu betonen.


7.) Fraktionssitzung vom 9.11.1931

Tagesordnung:
I. Erwerbslosenfürsorge
II. Gehaltsabbau
III. Kanalisationsfragen

Der Vorsitzende Gen. Winstel eröffnet 8.45 Uhr die Sitzung mit obiger Tagesordnung. Zum l. Punkt nimmt Gemeinderat Gen. Reidel das Worf. Er weist darauf hin, wie groß die Not unter den Erwerbslosen und besonders unter den Ausgesteuerten ist. In der Gemeinde sind 170 Ausgesteuerte, davon werden 100 von der Gemeinde unterstützt. Um deren Los zu erleichtern, gibt er Anregungen zwecks Gründung einer Notgemeinschaft. Die Fraktionsmitglieder unterstützen seine Anregungen.

Zu Punkt 2 zeigt Genosse Reidel die Auswirkungen der letzten Notverordnung im Haushalt der Gemeinden. Er weist auf die diktatorische Mocht des Bürgermeisters hin, welche derselbe auf Grund der Notverordnung besitzt, Er allein regiert, die Selbstverwaltung ist aufgehoben, die Gemeinderäte haben ebenso wenig zu sagen wie der Bürgerausschuß. Steuererhöhung gibt es keine außer Bier- und Bürgersteuer,

Gehaltsabbau ist bei den oberen Beamten nicht so kraß wie unten und wie bei den Arbeitern. An den Ausgaben für die Schule muß ebenfalls gespart werden zum Nachteil unserer heranwachsenden Generation. Die Versammlung wünscht einmütig einen schärferen Gehaltsabbau der leitenden Gemeindebeamten.

Schluß der Sitzung 11.15 Uhr.

Der Schriftführer Ad. Weber

Anmerkung:

Im Unterschied zu heute gab es neben dem Gemeinderat den Bürgerausschuß (Gemeindeverordnete), die eigentliche Vertretung aller Einwohner. Beide Gremien, deren zahlenmäßige Größe von der Einwohnerzohl abhing, wurden von der wahlberechtigten Bevölkerung gewählt, der Gemeinderat allerdings erst ab 1910. Bis 1918 galt zudem das die mittleren und unteren Einkommensschichten benachteiligende Dreiklassenwahlrecht, weil jede Steuerklasse annähernd gleich viele Mandate hatte.


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