Die sozialdemokratischen Gründerjahre
Als Geburtstag der Sozialdemokratie wird allgemein der 23. Mai 1863 genannt. An diesem Tag gründete Ferdinand Lassalle in Leipzig den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein (ADAV). Doch auch dieses Datum steht nicht isoliert in der Geschichte. Vorausgegangen waren Selbsthilfegemeinschaften der Handwerker und Landarbeiter, die der drohenden Verelendung nach der gescheiterten Revolution von 1848/49 entgehen wollten. Kämpften bei dieser Revolution Bürgertum und Arbeiter noch zusammen für Demokratie und Menschenrechte, änderte sich dies in der Zeit nach 1849 grundlegend. Das Bürgertum wandte sich enttäuscht von diesen Zielen ab und sah sein wichtigstes Betätigungsfeld in der Wirtschaft. Die Herrschenden - Fürsten, Junker, Militärs und Fabrikbesitzer - dankten dem Bürgertum diese Wende mit polizeistaatlichem Schutz der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse. Mit ihren Forderungen nach gleichberechtigter Teilhabe in Gesellschaft und Politik, nach allgemeinem Wahlrecht, dem Recht zur Gründung von Gewerkschaften und besserer sozialer Absicherung waren Handwerker sowie Land- und Fabrikarbeiter jetzt auf sich allein angewiesen. Die "industrielle Revolution", die in den 1850er Jahren einsetzte, führte zu einer Verelendung der in die Städte strömenden, ehemaligen Landarbeiter. Menschenunwürdige Wohnverhältnisse, ein 18-Stunden-Arbeitstag, Kinderarbeit und Löhne unterhalb des Existenzminimums verhalfen dem Proletariat zu der Erkenntnis, daß es sich nur mit eigener Kraft aus der sozialen und gesellschaftlichen Isolation befreien könne. Lokale und regionale Organisationen und schließlich die Gründung des Arbeitervereins im Jahre 1863 waren die Folge. Ferdinand Lassalle überlebte die Gründung seines Lebenswerkes nur um ein Jahr und einige Monate. Nach seinem Tode im August 1864 drohte die Spaltung der Arbeiterbewegang, als Mitglieder des ADAV zusammen mit August Bebel und Karl Liebknecht eine neue Arbeiter-Organisation ins Leben riefen. Im August 1869 gründeten sie in Eisenach die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP). Ihr Vorsitzender war Bebel, der bis zu seinem Tod im Jahre 1913 die große Führungspersönlichkeit der Sozialdemokratie blieb. Dieses Nebeneinander der beiden Organisationen währte nicht lange. Man erkannte, daß man jeweils dieselben Ziele verfolgte. Dies führte 1875 zum Vereinigungskongreß in Gotha. Das Ergebnis war die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (SAP). Im Jahre 1891 erfolgte dann auf dem Parteitag in Erfurt die Umbenennung in Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD). Zwischenzeitlich hatte der konservativ beherrschte Reichstag 1878 auf Initiative Bismarcks das "Sozialistengesetz" - Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie - verabschiedet. Die weite Auslegung dieses Gesetzes führte zur Auflösung der Parteiorganisationen und der den Sozialdemokraten nahestehenden Gewerkschaften sowie zum Verbot der gesamten Parteipresse. Die Folge war die Bildung von sog. Wahlvereinen, deren Zweck die ge genseitige Information über kommunale und andere politische Tagesfragen und die Interessenvertretung der Arbeiterschaft bei Wahlen waren. Auch sie wurden vom Staat überwacht und aufgelöst, sobald sich der Verdacht einer "sozialdemokratischen Tarnorganisation" ergab. Auch nach Aufhebung des Sozialistengesetzes im Jahr 1890 blieb der Name "Arbeiterwahlverein" die übliche Bezeichnung für sozialdemokratische Organisationen. Sie breiteten sich jetzt in Kleinstädten und stadtnahen Dorfgemeinden aus, bedingt durch die "Arbeiterbauern", deren landwirtschaftliches Einkommen zu gering war, so daß sie zu einem zusätzlichen Broterwerb als Fabrikarbeiter gezwungen waren, aber auch bedingt durch die Entstehung örtlicher Industriezweige. In unserer Region waren dies die Leder- und Tabakindustrie. Wie die Obrigkeit auch nach 1890 sozialdemokratische Aktivitäten beurteilte, geht aus den Protokollen von Tagfahrten aus dem Jahr 1893 hervor. Hierzu paßt die Verfügung des badischen Innenministers Eisenlohr aus dem Jahr 1890, der in einem vertraulichen Erlaß die Amtsvorstände der Bezirksämter aufforderte, "dem gemeingefährlichen Bestrebungen und Ausschreitungen der Sozialdemokratie nunmehr aufgrund der bestehenden Gesetze, und zwar unter sorgfältiger Einhaltung der gesetzlichen Schranken, innerhalb derselben aber soweit wie möglich und zulässig entgegenzutreten". Übrigens: Im Jahr 1910 hatte die SPD ca. 700.000 Mitglieder, 1914 über eine Million.
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