Rede zum Volkstrauertag 2015

Bürgermeisterstellvertreter
Dr. Peter Sandner
am 15.November 2015
auf dem Friedhof in Leimen-Mitte


Meine sehr geehrten Damen und Herren,

seit dem Jahre 1919 begehen wir in Deutschland den Volkstrauertag, mit dem zunächst der Millionen gefallener Soldaten des Ersten Weltkrieges gedacht wurde. Er war als Zeichen der Solidarität derer, die keinen Verlust zu beklagen hatten, mit denen gedacht, die um ihre toten Angehörigen trauerten. Der Gedanke von Versöhnung und Verständigung sollte im Mittelpunkt stehen, wie der damalige Reichstagspräsident Paul Löbe in seiner Rede 1922 anlässlich der ersten offiziellen Feierstunde zum Volkstrauertag betonte.

Die Nationalsozialisten pervertierten den Tag später zum „Heldengedenktag“ und bereiteten damit auch den Boden für den zweiten Weltkrieg. Ihrer Schreckensherrschaft und ihrem Rassenwahn fielen zwischen 1933 und 1945 in Deutschland und Europa über 50 Millionen Menschen zum Opfer. Die Bilanz des Krieges waren Tod und Zerstörung, die Infrastruktur vieler Länder war auf Jahre hinaus vernichtet. Deutschland war in Besatzungszonen aufgeteilt, eine eigene staatliche Souveränität gab es nicht mehr. Die Überlebenden hungerten und froren in den Trümmern und warteten auf Nachrichten von ihren vermissten oder verschollenen Angehörigen.

Erst nach und nach kam das staatliche Leben wieder in Gang, ordneten sich die Verhältnisse. Dies nicht zuletzt dank der großzügigen Unterstützung der US-Amerikaner durch Care-Pakete, die humanitäre Hilfe boten, und den Marshall-Plan, der wirtschaftliche Hilfe brachte und den Wiederaufbau stark förderte. Aber man stand nicht nur vor der gewaltigen Aufgabe, die Infrastruktur eines völlig zerstörten Landes neu aufzubauen und wirtschaftlich wieder auf die Beine zu kommen, sondern man musste auch mehrere Millionen Heimatvertriebene und Flüchtlinge in die Gesellschaft eingliedern. Darüber hinaus galt es, das verloren gegangene Vertrauen der Nachbarländer in Deutschland wieder zu gewinnen. Die Pariser Verträge mit Frankreich, die die deutsch-französische Freundschaft begründeten, waren hierzu ein erster Meilenstein, dem weitere wie die Aussöhnung mit Polen folgten.

Im Jahr 1952 wurde der Volkstrauertag wieder zum Tag der nationalen Trauer und erinnerte nun an alle Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft. In den seither vergangenen Jahrzehnten haben viele Menschen den Volkstrauertag verdrängt, die ihm zugrunde liegenden Ereignisse liegen weit in der Vergangenheit, sie berühren die meisten Menschen nicht mehr direkt oder persönlich. Kriege fanden woanders statt, im Fernen Osten, in Afrika, auf dem Balkan oder im Nahen Osten, man sah sie allenfalls in den Abendnachrichten der Tagesschau. Das Jahr 2015 hat den Krieg in Syrien und seine Auswirkungen für uns unmittelbar sichtbar gemacht. Vor der Terrororganisation geflüchtet, die sich selbst anmaßend „Islamischer Staat“ oder IS nennt, sind Hunderttausende von Leidtragenden sind. Nach Verlust ihrer Heimat hoffen sie nun auf Aufnahme in der EU und auch bei uns. Es kann heute nicht um die Frage gehen, ob wir diesen Menschen helfen wollen, es kann nur um die Frage gehen, wie wir ihnen helfen, wie wir diese gewaltige Herausforderung bewältigen können.

In unsere Gedanken am heutigen Tag sollten wir auch die Opfer der Terroranschläge vor zwei Tagen in Paris einschließen. Hier hat der IS seinen Terror bis unmittelbar vor unsere Haustür getragen. Wieder einmal erleben wir unschuldige Opfer in nächster Nähe, direkt in der Gegenwart: Neben dem Gedenken an die Opfer und Verfolgten in der Vergangenheit, sollte unserer Solidarität, unsere Unterstützung und unsere Hilfe auch diesen gegenwärtigen Opfern gelten. In unsere Gedanken schließe ich beide Opfergruppen ein, sowohl diejenigen, die als Flüchtlinge dem Terror des IS entfliehen und bei uns Hilfe und Schutz suchen, als auch diejenigen, die in Paris Opfer des Terrors des IS wurden. Mit diesen Anschlägen versucht der IS, Uneinigkeit in unsere westlichen Gesellschaften zu tragen, sie zu spalten und zu schwächen. Genau das darf dem IS aber nicht gelingen.

Unter dem Eindruck der unfassbaren Geschehnisse in Paris sollten wir nicht denjenigen folgen, die einer drastischen Veränderung der Flüchtlingspolitik das Wort reden und die Grenzen dicht machen wollen, weil eventuell einer oder zwei der Attentäter mit den Flüchtlingsströmen nach Europa kamen. Solch eine Reaktion würde sich der IS sicher wünschen. Vergessen wir nicht, dass die Flüchtlinge aus Syrien gerade vor dem IS geflohen sind, weil sie und ihre Familien vor Ort von diesen selbsternannten „Gotteskämpfern“ verfolgt und umgebracht wurden.

Und auch ein zweites sollten wir nicht tun. Unsere europäischen Ideale einer freiheitlichen, demokratischen und liberalen Welt aufzugeben und den Parolen der rechten Rattenfänger zu folgen, die keine Fremden bei uns dulden wollen, sie durch Parolen diffamieren und sogar durch Brandanschläge auf Flüchtlingsheime erneut hier bei uns verfolgen. Gerade die Ideen der Demokratie und Freiheit sind es, die Europa in den Augen so vieler Menschen auf dieser Welt so anziehend macht, für die diese für uns so selbstverständlichen Rechte nicht gelten. Wenn sie hilfesuchend bei uns erscheinen, sollten wir ihnen unsere solidarische Hilfe nicht verweigern.

Spannungen und Auseinandersetzungen werden nicht aus der Welt verschwinden, so wünschenswert es auch wäre. Aber wir können gemeinsam für eine friedlichere Zukunft arbeiten und hoffen, so dass eines Tages der Volkstrauertag wirklich nur noch eine Gedenktag sein möge, bei dem wir uns nur an die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft in der Vergangenheit erinnern, und kein Tag mehr, an dem wir auch der Opfer in unserer Gegenwart gedenken müssen und an die Solidarität von uns allen appellieren müssen, diesen hilfebedürftigen Menschen zu helfen.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.